Interview Künzi

Arbeiten im Hier und Jetzt

Frau Künzi, seit gut 100 Tagen sind Sie Teil des Drahtzug-Teams. Zeit für einen Blick zurück. Wie haben Sie diese ersten Wochen und Monate erlebt?
Der Einstieg war alles andere als alltäglich, denn bereits nach den ersten zwei Wochen meiner Einarbeitung kam der Corona-Lockdown. Das Atelier wurde fast stillgelegt. Nur ein paar wenige Teilnehmende kamen noch ins Atelier und wir arbeiteten grossteils mit Fernbegleitung per Telefon. Hinzu kamen die reduzierten Einsätze im Team sowie die Kurzarbeit. Unsere Strukturen und Abläufe mussten laufend hinterfragt, überprüft und den neusten Entwicklungen angepasst werden. Für mich persönlich war dies eine besondere Herausforderung. Einerseits musste ich handeln und entscheiden, anderseits kannte ich noch nicht alle Abläufe. Und niemand konnte einschätzen, wie sich die Lage entwickeln würde. Ich war sehr froh um die grosse Unterstützung meiner Vorgesetzten und meiner Kolleginnen und Kollegen. Ihr Support half mir dabei, mich trotz Ausnahmesituation schnell einzuleben.

Mal abgesehen von der Ausnahmesituation: Was hat Sie in dieser ersten Zeit besonders überrascht?
Wie unvoreingenommen mir ein Grossteil der Teilnehmenden von Beginn weg gegenübertrat. Und wie schnell ein Beziehungsaufbau möglich war. Das hatte ich nicht erwartet.

Welcher Moment ist Ihnen bislang in schönster Erinnerung geblieben – und weshalb?
Anfang April fand ich in meinem Briefkasten einen Brief von Drahtzug. Es war eine Karte mit guten Wünschen und Sonnenblumensamen. Ich habe mich riesig gefreut über diese kleine Aufmunterung, die eine schöne Botschaft in sich trug: «Nach dieser eher einsamen Zeit folgen bald wieder sonnigere, blühende Momente.» Die Sonnenblumen wachsen jetzt in meinem Garten.

Mittlerweile hat sich die Situation wieder etwas normalisiert. Erzählen Sie uns doch, wie ein «gewöhnlicher» Atelier-Tag abläuft?
Wir haben im Atelier 20 Tagesplätze die von mehr als 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern – aufgeteilt in eine Vormittags- und eine Nachmittagsgruppe – belegt werden. Jeweils zu Beginn setzen wir uns kurz zusammen, geben die wichtigsten Informationen an die ganze Runde weiter und verteilen Ämtli. Ob lesen, recherchieren, malen, gestalten, nähen, diskutieren oder einfach zuhören: Die Teilnehmenden entscheiden selbständig, mit was sie sich im Atelier beschäftigen möchten. Ziel ist es, neben kunsthandwerklichen Tätigkeiten hier die Sozial- und Selbstkompetenzen zu fördern. Alle zwei Wochen haben die Teilnehmenden zudem eine Sitzung, die sie selbständig vorbereiten und leiten. Hier besprechen sie aktuelle Themen und Bedürfnisse, die wir im vorgegebenen Rahmen der Institution umzusetzen versuchen.

Inwiefern ist das kreative Gestalten für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung wertvoll?
Die Teilnehmenden wählen stets eine Tätigkeit und Technik aus, die sie in diesem spezifischen Moment anspricht und ihnen guttut. Im Atelier arbeiten sie im Hier und Jetzt und sind abgelenkt von vielen Problemen, die sie belasten. Diese Entspannung unterstützt die psychische Gesundheit. Aber auch im kreativen Prozess ist man hin und wieder mit Hindernissen konfrontiert, die nach eigenen Lösungen verlangen. Durch Ausprobieren und Experimentieren trainieren die Teilnehmenden ihre Ausdauer und lernen zugleich neue Bewältigungsstrategien kennen. Dies hilft ihnen dabei, schliesslich das Ziel zu erreichen: Freude zu haben und stolz zu sein auf das Ergebnis. Darüber hinaus sind repetitive Tätigkeiten wertvoll, um Sicherheit im persönlichen Handeln und mehr Willensstärke zu erlangen. Auch davon können die Teilnehmenden im Atelier profitieren.

Wie fördern Sie das kreative Schaffen im Atelier?
Indem wir anleiten, motivieren und inspirieren – entweder bei uns im Atelier oder auch mal mit einem Workshop oder Museums-Besuch. Zum kreativen Schaffen gehören aber auch spielerische Elemente oder beispielsweise Diskussionen über einen aktuellen Zeitungsartikel. Eben alles, was die Kreativität anregt und fordert.

Woran arbeiten die Atelier-Teilnehmenden im Moment?
Das ist ganz unterschiedlich. Jene Teilnehmenden, die konkrete Regeln, klare Strukturen und eine Anleitung brauchen, arbeiten meist nach unseren Vorgaben an den sogenannten Drahtzug-Spezialkarten. Es werden aber auch individuelle Kunstkarten kreiert, ganz nach Lust und Laune. Darüber hinaus gibt es viele Teilnehmende, die frei schaffen und beispielsweise Bilder malen, die wir schliesslich an unserer Jahresausstellung präsentieren. Jede und jeder entscheidet selbst, ob die Werke nur ausgestellt oder im Atelier an der Hedwigstrasse 25 verkauft werden. All das, die ganze kreative Betätigung, ist aber nur ein Teil des Atelier-Angebots. Mindestens so wichtig und wertvoll sind der Austausch und das Miteinander.

Können Sie das etwas näher erläutern?
Ein Beispiel ist der Mittagstisch – es wird gemeinsam gekocht und das Essen zelebriert. Eine tolle Sache! Die Teilnehmenden werden dabei gezielt begleitet, können ihre Sozialkompetenzen stärken und zugleich ihre Fachkenntnisse im Bereich der Ernährung erweitern. Aktuell arbeiten wir ausserdem an einem Projekt der UNO-BRK zum Thema «Spiel». Die Teilnehmenden sollen spielerisch lernen mit verschiedenen Materialien, Regeln, Spielräumen und Rahmenbedingungen umzugehen. Wir stehen erst am Anfang und ich bin gespannt, wie sich das Ganze in den Gruppen entwickeln wird!

Sicher kommt es vor, dass jemand einen schlechten Tag hat und sich besonders schwer tut mit dem kreativen Schaffen. Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?
Wir bieten aktiv ein Gespräch an, gehen individuell auf die Person ein und hören einfach mal zu. Die Teilnehmenden haben ausserdem die Möglichkeit, sich in unseren Ruheraum zurückzuziehen oder sich durch den Einsatz sensorischer Hilfsmittel besser zu spüren und zu stabilisieren. In unserer Begleitung können sie das Atelier auch verlassen und bei einem Spaziergang zur Ruhe kommen. Generell unterstützen wir die Teilnehmenden nach Bedarf mit Krisen-, Beratungs- oder Motivationsgesprächen und vereinbaren zusammen mit ihnen individuelle Ziele, die sie Schritt für Schritt erreichen können.

Ihre Erzählungen klingen sehr positiv. Ist Drahtzug für Sie ein guter Arbeitgeber?
Absolut, und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen. Was mir sehr gut gefällt, ist der offene Umgang mit Informationen. Dazu gehören der freie Zugang zu allen Sitzungsprotokollen und Budgetdaten, die transparente Lohnpolitik sowie eine faire Weiterbildungsregelung. Erwähnenswert ist auch die Beteiligung des Unternehmens an unseren ZVV-Abonnements. Besonders bemerkenswert ist, dass zwischen den Angestellten, Teilnehmenden und Mitarbeitenden eine Begegnung auf Augenhöhe stattfindet. Im Drahtzug wird die UNO-BRK vorbildlich umgesetzt. Das schätze ich sehr, denn es ist nicht selbstverständlich.

Johanna Künzi

Leiterin Atelier seit März 2020

Berufliche Stationen

  • Pädagogik-Studium an der Universität in Danzig
  • Anerkennungspraktikum am Royal Children Hospital in Manchester
  • Grundstudium in BWL mit Diplomabschluss in Controlling
  • Tätigkeit in der Psychiatrischen Klinik Rheinau
  • Tätigkeit in verschiedenen Institutionen für Menschen mit einer psychischen und geistigen Beeinträchtigung
  • Höhere Fachprüfung in Kunsttherapie

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